08/05/2014 - 27/06/2014

Michael Braun: GANZ NAHE

"Wie finden Sie alle diese tollen Motive?",
fragt der Journalist. Der Fotograf lächelt
und sagt: "Ich bin einfach nur da".

Von Dodo Kresse-Wallner


Nun, der Fotograf ist sehr bescheiden, als er meint, er wäre "einfach nur da". Eher ist er "immer auf der Hut" mit eingeschaltetem Gehirn, frisch durchlüfteten Synapsen, einem wachen, durch-dringenden Blick und einem poetischen Herzen. Hüten Sie sich vor der Idee, dass Poesie etwas Kitschiges sei. Was ist Poesie? Eine Einstellung, eine Haltung, eine – Kunst? Von allem etwas. Sie ist Gefühl, Intuition, Gewissheit und nimmt die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften mit einer lässigen Geste vorweg. Dass alles mit allem zusammen hängt, dass ein vibrierendes Elektron ganze Galaxien zum Schwingen bringen kann, dass Grenzen eine Einbildung verschreckter Bürger sind – all das wissen die Dichter, schon lange bevor Quantenphysiker jene Entdeckungen machen, die unsere Realitäten ins Taumeln bringen.

Hauchzart sind die Hieroglyphen der Weisheit, eingeritzt in den abblätternden Lack einer alten Blechwand. Wer verstanden hat, dass es nicht darum geht, sie zu entziffern, sondern bloß deren Anwesenheit zu beachten, geht seine Wege in die Zukunft heiterer. Im Fadennetz der Nostalgie spannen sich die ins Rechteck eingefassten "Augenblicke" auf wie kleine Explosionen. Der Putz bröckelt, die Ziegelschicht wird sichtbar: ein Gemälde, das sich selbst malt. Der Fotograf als Zeuge dieses stillen Vorgangs.